Chronische Migräne Migräneentstehung, Chronifizierung und Behandlung – aktuelle wissenschaftliche Hypothesen und Erkenntnisse Migräne ist die mit Abstand häufigste idiopathische Kopfschmerzerkrankung, die Patienten veranlasst einen Arzt aufzusuchen. Dies erbrachte eine Erhebung in niedergelassenen Praxen und Klinikambulanzen [1]. Etwa 10 % der Weltbevölkerung leiden unter Migräne. Während eine „einfache“ Migräne mit episodischen Attacken ohne Komplikationen relativ gut zu therapieren ist, stellt die Versorgung von Patienten mit chronischer Migräne eine diagnostische und therapeutische Herausforderung dar. Mit dem klinischen Zulassungsprogramm PREEMPT [6, 7] gelang der Wirksamkeitsnachweis, dass Botulinumtoxin Typ A bei dieser schwer betroffenen Patientenpopulation mit chronischer Migräne zu einer signifikanten Reduzierung von Kopfschmerz- und Migränetagen führt. Anlässlich des Deutschen Schmerzkongresses vom 22. bis 25. Oktober 2014 in Hamburg gaben namhafte Experten unter dem Vorsitz von Professor Stefan Evers, Neurologische Klinik, Krankenhaus Lindenbrunn, Coppenbrügge, einen Überblick über die Erkrankung und die neuen Therapiemöglichkeiten. Education Definition Die chronische Migräne wird in der aktuellen Kopfschmerzklassifikation der International Headache Society als eigenständige Verlaufsform der Migräne gelistet (ICHD-3-Code 1.3) [2]. Von chronischer Migräne spricht man, wenn ein Patient über einen längeren Zeitraum (mindestens >3 Monate) hinweg an mindestens 15 Tagen pro Monat unter Kopfschmerz leidet und davon mindestens acht Tage von typischen Migränesymptomen (Übelkeit, Erbrechen, Beeinträchtigung der Seh- und Geruchswahrnehmung) begleitet wird. Gemäß aktueller, internationaler epidemiologischer Untersuchungen wird die chronische Migräne mit ca. 0,5-2% angegeben [3, 4]. Frauen sind deutlich häufiger betroffen als Männer. Komorbiditäten mit Depression, Angsterkrankungen und Panikattacken sind häufig. Neuronale Dysfunktion Auch wenn in den zurückliegenden Jahrzehnten enorme Anstrengungen unternommen wurden, um die spezifischen neuronalen Mechanismen bei der Migräneentstehung besser zu verstehen, gelang es bis dato nicht, das pathophysiologische Korrelat des Migräneschmerzes vollständig aufzuklären. Nach wie vor bedient man sich unterschiedlicher Hypothesen, um die Pathogenese dieses Krankheitsbildes zu beschreiben. So wird die Migräne als genetisch determinierte Erkrankung betrachtet, bei der es zu anfallsartigen Schmerzattacken kommt, die durch äußere Stressfaktoren getriggert werden. Aufgrund der Schmerzlokalisation im Versorgungsgebiet des Nervus trigeminus geht man davon aus, dass das sensorische trigeminale System maßgeblich an der Schmerzentstehung der Migräne beteiligt ist. Forschungsschwerpunkte sind Untersuchungen zur Aktivität der trigeminalen Neurone und den korrespondierenden Neurotransmittern wie z. B. Serotonin, Glutamat und Substanz P. Den Neuropeptiden CGRP (calcitonin gene related peptide) und VIP (vasoaktives intestinales Peptid) kommt vermutlich eine besondere Bedeutung bei der Migräne zu. Mehrere präklinische Studien zeigen, dass CGRP während einer Migräneattacke beim Menschen in erhöhter Konzentration im Jugularvenenblut vorliegt, wie Professor Karl Meßlinger, Institut für Physiologie und Pathophysiologie, Erlangen, ausführte. Werden diese inflammatorischen Neuropeptide freigesetzt, setzen sie eine in ihrer Komplexität noch nicht vollständig verstandene Kaskade pathophysiologischer Mechanismen in Gang. Es kommt zu einer induzierten „neurogenen 30
Migräneentstehung, Chronifizierung und Behandlung – aktuelle wissenschaftliche Hypothesen und Erkenntnisse Entzündung“ im Bereich der duralen Gefäße. Afferente C-Fasern vermitteln die entsprechenden Signale aus der „sensitivierten Peripherie“ weiter zum zentralen Nervensystem. Kommen nun noch Stressfaktoren hinzu und wird eine sogenannte Migräneschwelle überschritten, kann es zu einem Migräneanfall kommen. Chronifizierung der Migräne Über die Mechanismen und Risikofaktoren der Chronifizierung von Migräne ist trotz intensiver Forschung bislang wenig bekannt. Es gibt Hinweise, dass die Chronifizierung messbare strukturelle Hirnveränderungen induzieren könnte. In gewissen Arealen des Gehirns nimmt die graue Substanz ab. Dennoch müssen Migränepatienten keinen Verlust ihrer geistigen Fähigkeiten befürchten, wie Professor Arne May, Institut für Systemische Neurowissenschaften, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf, betonte. Chronische Migräne führe weder zum Ausfall von Konzentration und Aufmerksamkeit noch von Gedächtnisleistungen; zudem seien die Veränderungen in der grauen Substanz bei adäquater Therapie reversibel. Ein besonderer Risikofaktor für die Chronifizierung einer Migräne ist der Medikamentenübergebrauch: Die regelmäßige Einnahme akut wirksamer Kopfschmerzmedikamente an mehr als zehn Tagen im Monat gilt als eigenständiger Risikofaktor für die Entstehung von Kopfschmerzen [5]. Allein aus diesem Zusammenhang eines sich gegenseitig beeinflussenden Circulus vitiosus aus häufiger Medikamenteneinnahme und Migräneattacken lässt sich erahnen, welche Bedeutung einer effektiven und nebenwirkungsarmen prophylaktischen Therapiemaßnahme bei Patienten mit chronischer Migräne zukommt. Zurzeit stehen jedoch für die vorbeugende Behandlung nur wenige evidenzbasierte Optionen zur Verfügung. Behandlungsoption Botulinumtoxin Typ A (Botox®) Das Botulinumtoxin Typ A wird von dem Grampositiven, anaerobem Bakterium Clostridium botulinum gebildet. Onabotulinumtoxin A hemmt die Freisetzung von Neurotransmittern aus präsynaptischen Vesikeln und unterbricht somit die Signalübertragung. Botulinumtoxin Typ A wirkt als ein proteolytisches Enzym und schneidet hochspezifisch SNAP 25, ein Protein, das entscheidend ist für die Fusion der Vesikel mit der Membran, um den Neurotransmitter in den synaptischen Spalt abzugeben. Somit wäre Botulinumtoxin Typ A in der Lage, auch die Freisetzung inflammatorischer Neurotransmitter wie Glutamat, Substanz P und CGRP zu Education 31
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