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CONNEXI 2018-3 NEUROLOGIE

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WAS SCHWERSTKRANKE

WAS SCHWERSTKRANKE ERLEBEN Nahtoderlebnisse aus neurologischer Sicht Wolfgang Heide, Celle Abbildung 1: Hieronymus Bosch (1450-1516), Aufstieg in das himmlische Paradies. Nahtoderfahrungen hinterlassen sehr prägende Erlebnisse und Wahrnehmungen, die oft zu einer lebhaften Publikationstätigkeit der Betroffenen geführt haben. Einen Blick ins „Jenseits“ bieten sie jedoch aus neurologisch-neurobiologischer Sicht nicht, da der Tod nie eingetreten war. Die Frage nach dem Jenseits bzw. nach der Unsterblichkeit der menschlichen Seele und einem Leben nach dem biologischen Tod bleibt eine Glaubensfrage. CONFERENCES Nahtoderlebnisse werden seit über 25 Jahren immer wieder publiziert, oft Aufsehen erregend in der Laienpresse, aber auch in Fachzeitschriften. Ähnliche Berichte gab es aber bereits im Altertum bei Plato [2]. Von Hieronymus Bosch (1450-1516) wurden sie in eindrucksvoller Form malerisch charakterisiert mit dem Titel „Aufstieg in das himmlische Paradies“ (Abbildung 1). In den 1970er-Jahren wurde von dem amerikanischen Psychiater Raymond A. Moody erstmals eine größere Serie solcher Berichte publiziert [3|, unter anderem in seinem Buch „Leben nach dem Tod. Die Erforschung einer unerklärlichen Erfahrung.“ Es gibt mittlerweile darüber eine Fülle von Büchern, mit Titeln wie „90 Minuten im Himmel, Erfahrungen zwischen Leben und Tod“ von Don Piper, „Endloses Bewusstsein: Neue medizinische Fakten zur Nahtoderfahrung“ von Prof. Dr. Pim van Lommel [4], „Der Tod muss nicht das Ende sein“ von Dr. med. Sam Parnia und, mehr auf neurologisch-wissenschaftlicher Basis, das Buch „Mythos Nahtoderfahrung“ von Dr. med. Birk Engmann [5], niedergelassener Neurologe und Nervenarzt. Wie Mobbs & Watts in einer Metaanalyse [6] berichteten, handelte es sich dabei nur in knapp 50 % um Erfahrungen im Rahmen echter lebensbedrohlicher oder kritischer Situationen mit Sauerstoffmangel etc., in 52 % wurden Nahtoderfahrungen ohne ein lebensgefährdendes Ereignis berichtet, wie z. B. nach Kreislaufkollaps [7]. Nach beiden Typen von Ereignissen berichteten 43 % bzw. 49 % der Betroffenen retrospektiv über Nahtoderfahrungen, bei prospektiven Studien nur knapp 20 %. Ohne Zweifel war bei keinem dieser Patienten die Definition des klinischen Todes mit irreversiblem Stillstand von Atmung und Kreislauf sowie irreversiblem Ausfall aller Hirnfunktionen erfüllt, erst recht nicht der biologische Tod mit irreversiblem 58

WAS SCHWERSTKRANKE ERLEBEN Erlöschen sämtlicher Organ- und Zellfunktionen. Die Nahtoderfahrungen in kritischen oder weniger kritischen Situationen haben aber sehr prägende Erlebnisse und Wahrnehmungen hinterlassen, die oft zu einem starken Sendungsbewusstsein und einer lebhaften Publikationstätigkeit der Betroffenen geführt haben [1]. Einen Blick ins „Jenseits“ bieten sie jedoch aus neurologisch-neurobiologischer Sicht nicht, da der Tod nie eingetreten war. Nach den Ergebnissen der AWARE-Studie von Parnia et al. [8] mit 102 Interviews bei 140 Überlebenden von insgesamt 2.060 Patienten mit Herzstillstand hatten 46 % Erinnerungen an die Akutphase in Form von hellem Licht, Tieren oder Pflanzen, Furcht, Verfolgungsszenarien, Déjà vu oder auch Erscheinungen verstorbener Angehöriger. 9 % berichteten Nahtod erlebnisse, meistens in Form von Lichtwahrnehmungen wie in einem Tunnel, der ins Licht führt, von starken Glücksgefühlen, Out-of-body-Erfahrungen (Empfindung, seinen eigenen Körper zu verlassen und ihn z. B. von oben zu sehen) oder Depersonalisations-Erlebnissen. 2 % waren sich einiger während der Reanimation gesehener oder gehörter Erlebnisse bewusst, deren Wahrheitsgehalt experimentell überprüft werden konnte [9]. Grob geschätzt waren knapp zwei Drittel der Nahtoderlebnisse positiv mit den erwähnten Glücks- und Lichtwahrnehmungen („Aufstieg ins Paradies“), ein Drittel negativ mit zum Teil höllenähnlichen Erlebnissen. Wahrnehmungen und Halluzinationen: Neurobiologie Neurobiologisch lassen sich ähnliche Erlebnisse bei bestimmten Hirnschädigungen nachweisen bzw. provozieren. Unter erhöhtem CO 2 -Gehalt des Blutes oder Sauerstoff-Mangel wurden aufgrund einer Funktionsstörung des Sehzentrums im Hinterhaupts-(Okzipital-)lappen der Groß hirnhemisphären vermehrt tunnelblickartige Gesichtsfeldeinschränkungen bemerkt, ähnlich wie sie nach Nahtod-Situationen berichtet wurden [10]. Bei Schädigung der Sehrinde okzipital treten aber nicht nur Ausfälle auf, wie ein tunnelförmig eingeschränktes Gesichtsfeld bei bilateralen Läsionen, sondern bei Reizung dieser Nervenzellen auch positive Wahrnehmungsphänomene in Form von visuellen Halluzinationen. Dabei produziert das Gehirn ohne Auslösung durch einen physikalischen visuellen Stimulus geometrische Formen, Muster, Farben, Gesichter oder auch ganze Figuren oder traumähnliche visuelle Szenen, wobei die Art der Halluzination von der Lokalisation der Hirnschädigung in der Sehrinde abhängt. Wenn das Hirnareal, das die Farbe (grün) und Form eines Baumes neuronal kodiert und abbildet, elektrisch stimuliert oder irritiert wird (z. B. durch Sauerstoffmangel, der Spike-ähnliche Entladungen im EEG des Hinterhauptslappens auslösen kann), kann es diese Wahrnehmung auch spontan produzieren, denn echte Wahrnehmungen und Halluzinationen benutzen dieselben Hirnstrukturen [11]. Ähnliche visuelle Halluzinationen werden provoziert unter dem Einfluss von Drogen (Cannabinoide etc.) und Medikamenten (z. B. Glutamat-/NMDA-Rezeptor- oder Serotonin-Antagonisten). Verschiedene Halluzinogene wie LSD, Meskalin, Ketamin oder Haschisch, die optische Halluzinationen und keine Bewusstseinstrübungen oder Amnesien hervorrufen, können vereinzelt alle Nahtoderlebnis-Elemente bis hin zu vollständigen Nahtoderlebnis-Sequenzen hervorrufen [12]. In echten Nahtod-Situationen werden durch den Sauerstoffmangel u.a. vermehrt halluzinogen wirkende endogene NMDA-Rezeptor-Antagonisten wie das Endopsychosin gebildet, die der Glutamat-Intoxikation der Nervenzellen und damit dem neuronalen Zelltod entgegenwirken (neuroprotektiver Effekt). CONFERENCES 59

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