RELIGION UND PALLIATION CONFERENCES kann aber auch das Leiden als Mahnung für seine Sünden verstehen; dies verlangt von ihm die Hinwendung zu Gott durch Umkehr und Buße. Schon vor vielen Jahren haben einige muslimische Gelehrte und später mehrere islamische Gutachterräte entschieden, dass der Patient im Rahmen seines Selbstbestimmungsrechts bei einer unheilbaren schweren und tödlichen Krankheit mitentscheiden darf, ob er die bisherige gezielte Behandlung unterlassen und nur eine Linderungsmaßnahme, die Palliativmedizin, in Anspruch nehmen möchte. Aufgrund dieses rechtsschulischen islamischen Hintergrunds lehnt der Muslim bei schweren, fortgeschrittenen unheilbaren Krankheiten, wie z. B. Krebs, AIDS oder Demenz, eine direkte aktive Sterbehilfe (die Euthanasie) oder die Beihilfe zum Suizid ab. Er hat aber die Wahl, z. B. eine mögliche alternative Schmerzbehandlung und Palliative Care zur Linderung seiner Beschwerden und Symptome. Keine aktive Sterbehilfe Anhand der bisherigen dargestellten Grundlagen des islamischen Glaubens bezüglich Leben und Tod und unter Berücksichtigung der vielen Stellungnahmen von renommierten Gelehrten und anerkannten Gutachten der islamischen Fatwa- Gremien der verschiedenen muslimischen Rechtsschulen (Sunniten und Schiiten) kamen wir im Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) zu folgendem Schluss: Eine aktive Sterbehilfe für den unheilbaren Schwerstkranken, Krebs-, Demenzoder AIDS-Patienten, sowohl für die selbst bestimmenden Sterbenden als auch auf Verlangen eines Dritten, also Ärzten oder Angehörigen (Tötung auf Wunsch), wird abgelehnt. Auch die Tötung auf Verlangen, die Beihilfe zum Suizid und der ärztlich assistierte Suizid werden abgelehnt. Wir begrüßen die Aussagen von Repräsentanten der Bundesärztekammer, die jeder Form der organisierten Sterbehilfe nicht stattgeben will („Neue Presse“ vom 04.06.2012). Bei Schwerstkranken und unheilbaren Menschen ist es jedoch statthaft, das Angebot der Unterlassung oder Reduktion der Behandlungsmaßnahmen in Anspruch zu nehmen (sogenannte passive Sterbehilfe oder besser: „Sterbenlassen“). Jeder Mensch hat das Recht, die Gestaltung seines letzten Lebensabschnittes zu bestimmen (Patientenverfügung mit Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung), aber immer im Rahmen der gültigen Gesetze und nach seiner religiösen Überzeugung. Übrigens hier gibt es Übereinstimmung in vielen Punkten mit den Grundsätzen zur ärztlichen Sterbebegleitung der Bundesärztekammer und der Deutschen Gesellschaft für Palliativmedizin (DGP), sowie mit dem Standpunkt der katholischen und evangelischen Kirchen bzw. der jüdischen Gemeinde. Jeder Mensch, insbesondere in der schwierigen Situation des Sterbens, hat Anspruch auf gute Seelsorge und gute Betreuung: „Keiner soll sterben, ohne eine gute Hoffnung auf Gott zu haben, dass Er sich seiner erbarmt und ihm vergibt“ (Ausspruch des Propheten Muhammad). Dazu gehören u. a. menschenwürdige Unterbringungen, Zuwendungen, Körperpflege, Lindern von Schmerzen, Atemnot und Übelkeit, sowie das Stillen von Hunger und Durst. Wie sieht es nun bei der sogenannten „indirekten Sterbehilfe“ aus. Sie ist die in Kauf genommene Beschleunigung des Todeseintritts als Nebenwirkung z. B. einer gezielten Schmerzbekämpfung. Dies erfolgt in Krankenhäusern regelmäßig mit Opioiden im Endstadium der Krebserkrankungen. Die terminale Sedierung ist eine Form der indirekten Sterbehilfe. Dieser Fall ist in der Strafrechtswissenschaft in Deutschland diskutiert worden. Im Ergebnis sind sich alle Meinungen einig, dass der Arzt hier straffrei bleiben muss. Nach Ansicht des höchsten 26
RELIGION UND PALLIATION deutschen Strafgerichts kann sogar die Nichtverabreichung notwendiger Schmerzmittel mit der Begründung, keinen vorzeitigen Tod herbeiführen zu wollen, als Körperverletzung (§ 223 bis § 233 Strafgesetzbuch) oder unterlassene Hilfeleistung (§ 323c Strafgesetzbuch) bestraft werden. Aus medizinischer Sicht ist die „indirekte Sterbehilfe“ in der Praxis sehr selten, weil korrekt eingesetzte Opiate (z. B. Morphium) oder Benzodiazepine das Sterben entgegen früheren Ansichten in der Regel nicht verkürzen, sondern sogar leicht verlängern. Die juristische Diskussion zu diesem Thema erscheint deshalb manchen Palliativmedizinern als eher akademische Debatte. Dass dem nicht so ist, zeigen plastische Beschreibungen in der medizinischen Literatur. Wie gesagt, die passive Sterbehilfe ist das Unterlassen oder die Reduktion von eventuell lebensverlängernden Behandlungsmaßnahmen. Obwohl es sich dabei um einen international etablierten Begriff handelt, halten ihn viele für missverständlich und unglücklich gewählt und meinen, man solle besser und eindeutiger von „Sterbenlassen“ sprechen. Die Abgrenzung der aktiven zur passiven Sterbehilfe oder auch der indirekten Sterbehilfe ist im Einzelfall äußerst schwierig. Beihilfe zur Selbsttötung (assistierter Suizid) Wird ein direkt tödliches Medikament nicht direkt der Person verabreicht (durch Injektion oder ähnliches), sondern nimmt die Person das Medikament freiwillig selbst ein, das zuvor von einer Drittperson organisiert oder bereitstellt wurde (z. B. Arzt), so liegt gemäß Schweizer und deutscher Rechtsauffassung keine Sterbehilfe, sondern straflose Beihilfe zur Selbsttötung vor. Die dafür geeigneten Wirkstoffe dürfen aber für diesen Zweck nicht verordnet werden, es handelt sich deshalb unter Umständen um einen Verstoß gegen das Arzneimittelgesetz. Die ethisch-moralische Beurteilung des Verhaltens ist dabei von der strafrechtlichen Sicht deutlich zu trennen. In der Schweiz ist Hilfe zur Selbsttötung nicht strafbar, sofern kein egoistisches Motiv vorliegt (Art. 115 StGB). Die Schweizerische Akademie der Medizinischen Wissenschaften betont aber in ihren Richtlinien, Suizidhilfe sei nicht „Teil der ärztlichen Tätigkeit“. In Österreich ist die Mitwirkung am Suizid verboten und wird mit Freiheitsstrafe von sechs Monaten bis zu fünf Jahren bestraft (§ 78 des Strafgesetzbuches). In den Niederlanden ist die vorsätzliche Hilfe zur Selbsttötung verboten (Art. 294 des Strafgesetzbuches), allerdings nicht strafbar, wenn sie von einem Arzt unter Einhaltung bestimmter Sorgfaltspflichten begangen wurde und dem Leichenbeschauer Meldung erstattet wurde. In den US-Bundesstaaten Oregon und Washington ist der ärztlich assistierte Suizid zugelassen, und in Oregon und in Washington ist „Death with Dignity Act“ geregelt. Sterbehilfe steht also im Spannungsfeld zwischen Gesetzen, Menschenwürde, medizinischen Möglichkeiten, Selbstbestimmung und religiösen bzw. ethischen Aspekten. Die Befürworter der aktiven Sterbehilfe des selbstbestimmten Sterbens haben ihre Argumente in Bezugnahme zu ihrem Menschenbild gemacht. Ebenso die Gegner, dazu zählen insbesondere die Kirchen und Religionsgemeinschaften. Aber auch ein Teil der Humanisten. Sie weisen zurecht warnend auf die Entwicklungen in Deutschland der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hin, bei denen am Anfang eine seriöse Erörterung der Frage stand, unheilbar kranke Menschen von ihrem Leiden zu erlösen und sich später dann eine staatlich organisierte Euthanasie daraus entwickelte. Aiman Mazyek Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) Sachsenring 20, 50677 Köln CONFERENCES 27
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