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CONNEXI 2019-8 Schmerz Palliativmedizin

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medizinisches Fachmagazin über Schmerz und Palliativmedizin, für Ärzte, mit retrospektiven Berichten vom Fachkongressen: Deutscher Schmerz- und Palliativtag 2019

RELIGION UND PALLIATION

RELIGION UND PALLIATION CONFERENCES Juden jedes Mal zum Ausdruck, wenn sie vom Tod eines Menschen erfahren und den Segen sprechen: „Baruch Dajan ha‘Emet“ (deutsch: Gelobt ist [Gott, er ist] der wahre Richter). Der Sterbeprozess darf nicht beschleunigt, aber auch nicht verlängert werden Genauso wie das jüdische Religionsgesetz alle Maßnahmen verbietet, die das Sterben absichtlich beschleunigen, verbietet es umgekehrt auch alle Maßnahmen, die den Sterbeprozess eines Menschen künstlich in die Länge ziehen und die Seele davon abhalten, den Körper zu verlassen. Ausführlich wird dies bereits in den bis heute autoritativ gültigen Kodifizierungen des jüdischen Religionsgesetzes und Kommentaren aus dem 16. Jahrhundert ausgeführt. Als Beispiele werden in den Texten Methoden genannt, die nach dem damaligen Stand der Wissenschaft oder volksmedizinischen Überzeugungen als „medizinische Sterbehindernisse“ angesehenen wurden. Durchaus dürfen wir darin die Analogie zur unnötigen Medikalisierung des Sterbens in unserer hochtechnisierten modernen Medizin erkennen: „Wenn ein Hindernis besteht, das die Seele eines Sterbenden hindert, seinen Körper zu verlassen, wie das Geräusch des Holzhackens eines Holzfällers in der Nähe des Hauses, in dem der Sterbende liegt, oder Salzkristalle, die jemand auf die Zunge des Sterbenden gelegt hat, so darf man diese Hindernisse beseitigen. Es ist nur das Beseitigen eines Hindernisses, aber kein Akt, der den Tod herbeiführt.“ (Schulchan Aruch, Mappa zu Jore Dea 339,1). Die halachischen Autoritäten unserer Zeit betonen, dass die Möglichkeiten der modernen Medizin die Grenzen zwischen gebotener Lebensverlängerung und verbotener Verzögerung des Sterbeprozesses unscharf haben werden lassen. Daher muss stets im konkreten Einzelfall entschieden werden, ob ein Kranker im Verständnis der Halacha bereits als Sterbender gilt und ob damit das Fortführen einer auf kurative Ziele ausgerichteten Therapie bloß das Verlängern von Qual, also verbotenes Verzögern des Sterbeprozesses bedeutet [2]. Grundhaltungen in Palliative Care und im Judentum Die Grundhaltung moderner Palliativmedizin ist unbedingt lebensbejahend. Die European Association for Palliative Care betont in ihrer Definition, dass Palliativmedizin das Leben bejaht und das Sterben als natürlichen Prozess akzeptiert. Ausdrücklich will sie weder den Eintritt des Todes beschleunigen, noch diesen hinauszögern (EAPC 2009). Obwohl diese Haltung ganz der jüdischen Tradition im Umgang mit Sterben und Tod entspricht, ist in der jüdischen Gemeinschaft die Befürchtung groß, der Ansatz von Palliativmedizin könnte ein fatalistischer Ansatz sein und mögliche Lebensverlängerung zu früh aufgeben. Weil die Verpflichtung zur Lebenserhaltung im Judentum ein so fundamentales Gebot ist, neigen praktizierende Juden eher dazu, die Möglichkeiten der Medizin zu überschätzen und alles medizinisch nur Machbare einzufordern, unabhängig davon, wie gering die Erfolgsaussichten auch sein mögen. Oft ist es aber eine von Ärzten suggerierte falsche Hoffnung, die dazu führt, dass lieber ein künstliches In-die-Länge-Ziehen des Sterbens in Kauf genommen wird, als das (gar nicht mehr bestehende) Risiko einzugehen, das gottgeschenkte Leben zu früh aufzugeben. Bikkur Cholim – Die Begleitung Kranker und Sterbender Um Kranke, die ihre spirituelle Heimat im Judentum sehen, zu halachisch wirklich richtigen Ent­ 30

RELIGION UND PALLIATION scheidungen zu befähigen, müssen Ärzte ihnen, ihren Familien und gegebenenfalls auch den zu Rate gezogenen Rabbinern bei der Unterscheidung helfen, ob diskutierte medizinische Maßnahmen tatsächlich Leben verlängern oder ob sie einen bereits begonnenen Sterbeprozess nur verlängern. Dies erfordert neben großer Erfahrung auch das Vertrauen der Betroffenen und viel Fingerspitzengefühl, denn im Judentum ist das plumpe Eröffnen einer infausten Prognose verpönt, weil es Hoffnung nehmen und nach traditioneller Vorstellung schädlich oder sogar lebensverkürzend sein könnte. Zugleich sollen Sterbende aber auch angehalten werden, das Sündenbekenntnis zu beten und ihre spirituellen und irdischen Dinge zu regeln. Von Schmerzen sollen sie befreit werden und dass Sterbende nicht mehr essen und trinken wollen, ist der jüdischen Tradition nicht fremd. Praktiziertes Judentum und Palliative Care sind absolut kompatibel. Nur weil gläubige Juden die strikte Befolgung der Halacha einfordern, muss ihnen deswegen palliativmedizinische Expertise am Lebensende also nicht verwehrt bleiben. Unbedingt sollten die ehrenamtlichen Helfer aus den Bikkur-Cholim-Gruppen der jüdischen Gemeinden früh in die Behandlung schwerstkranker und sterbender Juden einbezogen werden, wenn diese einverstanden sind. Die Bikkur-Cholim-Gruppen der jüdischen Gemeinden sind die Institutionalisierung des jüdischen Gebots, dass jeder Einzelne, aber auch die Gemeinschaft als Ganzes sich um die Kranken kümmern und diese begleiten muss. In den größeren jüdischen Gemeinden Deutschlands sind die Bikkur-Cholim-Gruppen fest etabliert, und ihre Mitglieder sind als ehrenamtliche Helfer durch die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden (ZWST) geschult und gut auf ihre Funktion als Kulturdolmetscher vorbereitet. Die Zusammenarbeit zwischen Akteuren des professionellen Gesundheitssystems und den Bikkur-Cholim-Gruppen kann wesentlich zur Akzeptanz und Inanspruchnahme palliativmedizinischer und hospizlicher Angebote beitragen. Bikkur Cholim ist das verstehende Begleiten Kranker, das sich radikal an deren Bedürfnissen und ihren individuellen Lebensentwürfen orientiert. Ein zentraler jüdischer Gedanke dabei ist, dass in der Begegnung mit dem Kranken immer auch die Begegnung mit dem Göttlichen geschieht. Deshalb soll man Kranken stets mit Demut begegnen und sich ganz auf sie einlassen. Im Sinne Martin Bubers muss man, um echte, unmittelbare Begegnungen überhaupt erfahren zu können, alle Standards, Vorkonzepte und mitgebrachten Antworten, ganz der talmudischen Tradition folgend, beiseitelassen oder „einhüllen“: „Wer einen Kranken besucht, […] hülle sich […] ein und setze sich ihm [auf Augenhöhe] gegenüber, denn die Gottheit befindet sich über der Kopfseite des Kranken.“ (Babylonischer Talmud Schabbat 12b). Das Sich-Einhüllen ermöglicht erst das Sich- Einlassen auf den anderen, oder wie ein anderer großer jüdischer Denker unserer Zeit, Emmanuel Lévinas, es formuliert, dem Antlitz des Anderen zu begegnen. Nur so können individuelle Antworten gefunden werden und nichts schützt besser vor stereotypisierenden und kategorisierenden Standards einer falsch verstandenen Kultursensibilität [3]. Referenzen 1. Baeck L. Das Wesen des Judentums, J. Kaufmann, Frankfurt a.M. 1922; 184. 2. Ku era T. Halacha, Aggada und Sterbehilfe. In: Klapheck E. (Hrsg.) Jüdische Positionen zur Sterbehilfe. Hentrich & Hentrich, Berlin 2016: 61-87. 3. Probst SM. Die palliativmedizinische Begleitung jüdischer Patienten und Palliative Care aus jüdischer Sicht. Z Palliativmed 2019; 20: 31-38. Dr. med. Stephan M. Probst Klinik für Hämatologie, Onkologie und Palliativmedizin, Klinikum Bielefeld Teutoburger Straße 50, 33604 Bielefeld CONFERENCES 31

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